Written by 16:42 Ausrüstung, Buch, Buch Allgemeines, Fernwandern, Outdoorküche, Tourtagebuch, Vorbereitung

JARDINE, Ray: Trail Life

Diese Buchrezension ist für alle, die gerne weniger Gewicht hätten. Autor Ray Jardine ist Ultraleicht-Wanderer der ersten Stunde. Menschen wie er widmen sich mit großer Hingabe der Frage, wie man mit knappen Gepäck gut über die Runden kommt. Dabei nehmen sie auch Ungemach in Kauf – Hauptsache, der Rücken ist happy.

“Lightweight Backpacking” entstand – wie vieles in der Weitwanderszene – im Umfeld der großen amerikanischen Kontinentalfernwanderwege. Auf diesen unvorstellbar langen Strecken versammeln sich Jahr für Jahr etliche tausend Teilzeit-Aussteiger, um das Abenteuer  US-Durchquerung in Angriff zu nehmen. Ray Jardine gehört zu jenen wenigen Leuten, die die Big Three komplett begangen haben. Diese drei großen Weitwanderwege Nordamerikas, die sich entlang der Hauptwasserscheiden des Kontinents jeweils von der Nord- zur Südgrenze der Vereinigten Staaten erstrecken, bringen es gemeinsam auf etwa 8000 Meilen oder rund 13000 Kilometer. Angeblich waren bereits mehr Menschen im Weltall als es Leute gibt, die sich die Triple Crown of Hiking verdient haben.

Am Pacific Crest Trail (c) Wikipedia

Am Pacific Crest Trail (c) Wikipedia

Jeder Mensch bei klarem Verstand wird sich vor einer solchen Tour gründlichst damit befassen, wie er seine Traglast auf ein sinnvolles Maß reduzieren kann. Schon lange vor der Tour wird daher genau geprüft, wie warm (und damit wie schwer) der Schlafsack wirklich sein soll, ob unterwegs Steigeisen benötigt werden, wie klein der Rucksack sein darf – und ob die dicke Jacke im Hochsommer wirklich mit muss. Die Packliste verhält sich zum Rucksack wie das rechtsdrehende Werbe-Joghurt zum Blähbauch: Die zeitgerechte Anwendung erspart ein unnötiges Völlegefühl.

Für den Pacific Crest Trail gibt es beispielsweise eine eigenes Internetprojekt, die Wasserstellen am Pacific Crest Trail zu erfassen, um den Begehern das Tragen von Trinkwasser zu ersparen. So wird Gewicht reduziert, ohne tatsächlich etwas zurück zu lassen. Ultralight-Wanderer gehen einen Schritt weiter. Vereinfacht gesagt stellen sich “UL”-Fans bei jedem einzelnen Ausrüstungsgegenstand die Frage, auf wieviel Komfort sie zu verzichten bereit sind. Wer öfters einschlägige Internet-Diskussionsforen stöbert, der weiß:  Diese Jagd nach jedem Gramm nimmt zuweilen skurille Formen an. Öfters könnte man den Eindruck gewinnen, manche Leute würden sich vor einer Tour am liebsten ein Bein abhacken, da ja eh schon ein zweites Bein mitkommt – und dem Komfortverlust eine nicht zu leugnende, gewaltige Gewichtsersparnis gegenübersteht. Andere Leute sehen die ganze Thematik recht vernünftig und kommen mit guten Ideen, über die es sich tatsächlich nachzudenken lohnt.

jardine-trail-life

Ray Jardine und sein mittlerweile zum Klassiker gereiftes Buch “Trail Life” befindet sich irgendwo in der Mitte der beiden Extreme. Auf exakt 400, nur in der englischen Originalfassung erhältlichen Seiten widmet er sich allen, aber auch wirklich allen Aspekten, die einen Weitwanderer vor einer großen Tour beschäftigen. Im Gegensatz zu anderen Outdoor-Ratgebern verzichtet er dabei völlig auf Produktempfehlungen (abgesehen von seinen eigenen, selbst hergestellten Artikeln, für die es jedoch im Buch auch immer eine dazupassende do-it-yourself Anleitung gibt).

So erzählt er – durchaus unterhaltsam – von seinen eigenen Anfängen in der Outdoorszene. Tatsächlich blickt er auf einen farbenfrohen Lebenswandel zurück: Nach dem Uni-Abschluss in Raumfahrttechnik war er als Entwickler von Flugsimulatoren tätig, was er aber bald wieder bleiben ließ, um mehr in den Bergen sein zu können. Es folgen mehrere Durchquerungen großer Kletterwände, darunter eine Erstbegehung am El Capitan. Dabei erfindet er die für Kletterer unverzichtbaren “Friends”, was etwa gleichzusetzen ist, als hätte er den für Wanderer unverzichtbaren Rucksack erfunden. In den Achtziger Jahren umrundet er mit seiner Frau Jenny in einem Segelboot die Welt, und lässt sich irgendwo unterwegs gründlichst zum Tiefseetaucher ausbilden. Wieder daheim, entdeckt er seine Liebe zum Drachenfliegen, und kommt in 2,5 Jahren beinahe 2600 Male hoch in die frische Luft. Dass da auch ein Pilotenschein her musste, war abzusehen. Fünf Mal ging er länger wandern, jede dieser Touren zumindest 3500 Kilometer lang. 10 Mal durchquert er mit Kanu oder Kajak Teile der Arktis.

Ray Jardine (c) Pinterest

Ray Jardine (c) Pinterest

Mit all diesen Erfahrungen ausgestattet, setzte er sich in den Neunziger Jahren an den Schreibtisch und verfasste sein erstes Weitwanderbuch: “Beyond Backpacking” ist der Vorläufer des hier besprochenen “Trail Life”, wurde im Laufe der Jahre mehrmals großzügig überarbeitet und erhielt wohl als Folge all dieser Änderungen irgendwann auch einen neuen Namen. Herausgekommen ist die vorläufig letzte Fassung von 2009, die mir mein Buchhändler freundlicherweise aus Arizona organisierte. Den Buchtipp habe ich übrigens von Helen aka  walkingwomad erhalten – für mich die ausgewiesene Expertin für lange Strecken – und darüber hinaus genauso verliebt in die Tourenvorbereitung wie ich.

Kommen wir also langsam zum Buch. Es ist ein wilder Ritt, auf den Ray den Leser hier mitnimmt. Die unglaubliche Themenvielfalt wie auch sein ständiger Wechsel zwischen mehr oder weniger nützlichen, oft fast schon mit religiöser Überzeugung vorgetragenen Grundprinzipien des leichten Wanderns sorgen jedenfalls für Abwechslung. Egal, ob man seinen Anregungen nun etwas abgewinnen kann oder nicht. Irgendwie ist es wie einst bei Modern Talking: Egal, was man davon hält, wurscht ist es einem sicherlich nicht. Und darauf sollte man vor der Lektüre besser vorbereitet sein – denn die erste skurille Botschaft kommt bestimmt. Wenn auch nicht für jeden an derselben Stelle.

So gelingt es Jardine gleich im ersten Teil des Buches, dem Leser mit klaren Worten einen absolut schlüssigen Blick auf die Gesetze der Outdoor-Industrie zu vermitteln – um sich ein Kapitel später diebisch (und über mehrere Seiten) über die Gewichtsersparnis zu freuen, die er mit dem Abschneiden der Schuh-Laschen erzielen konnte. “That guy is a nut, but an informative nut”, formuliert es ein Leser auf goodreads.com. Und je tiefer man in die Gedankenwelt von Ray “The Ray Way” Jardine vordringt, umso geneigter ist man, dieser Ferndiagnose zuzustimmen.

Das ist aber nicht so gemein gemeint, wie es vielleicht klingen mag. Revolutionäre Ideen erfordern revolutionäre Geister – und wenn es einen Grund gibt, warum jeder Outdoormensch mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Nutzen aus diesem Buch zieht, so ist es dieser: Jardine regt dazu an, Verhaltensmuster und Überzeugungen, die man selbst nie infrage gestellt hat, einfach von Zeit zu Zeit zu überprüfen, ob sie denn immer noch zutreffen. Ein Beispiel: Wenn sich ein Kunde in einem Sportgeschäft als Wanderneuling outet, hat der Verkäufer sicherzustellen, dass er dem Kunden die Ausrüstung verkauft, die seinen Voraussetzungen entspricht (schon alleine deshalb, um sich nicht im Nachhinein mit diversen Interpretationen des Produkthaftungsgesetztes konfontiert sehen zu müssen). Also wird er jemanden, der bisher nie weiter als 10 Kilometer gegangen ist, sicherheitshalber einen Schuh verkaufen, der die untrainierten Gelenke und Bänder (unter-)stützt. Und das auch, wenn dieser Wanderer überhaupt nicht vor hat, in steiles, steiniges Terrain vorzudringen. Einige tausend Kilometer später wird derselbe Wanderer mit Sicherheit selbst einschätzen können, auf welchem Untergrund ihm welcher Schuh am besten “passt”. Muskeln und Bänder sind inzwischen trainiert, und für viele Wege muss nun nicht mehr der schwere Wanderstiefel auf den Fuß, es reicht nun auch ein etwas stabilerer Wald-Laufschuh.

Für diesen Schritt brauchen die meisten Vielwanderer noch keine spezielle Literatur. Rays Verdienst liegt darin, diese grundsätzliche Überlegung auf alle anderen Bereiche des Wanderns umzulegen. Dabei mischen sich im Buch durchaus nachvollziehbare Schlussfolgerungen mit beinahe dogmatisch vorgetragenem, haarsträubend naivem Unsinn. Und ja, das Urteil erlaube ich mir bei einem Autor, der auf seiner Homepage ein batteriebetriebenes Armband anbietet, welches “durch das Aussenden von Stromschlägen Krankheitserreger, Pilze und kleine Urtierchen” aus der Blutbahn verjagt.

An dieser Stelle muss ich kurz auf den Stil des Buches eingehen: Alle Themenbereiche werden in Form eines Erfahrungsberichtes aufbereitet. Ray verwendet beinahe immer die Form “Jenny and I”, wenn er eigentlich sich selbst meint und vergisst nicht, regelmäßig darauf hinzuweisen, dass es sich bei allem, was es dort zu lesen gibt, ausschließlich um persönliche Erfahrungen handelt, aus denen sich jeder Leser rausnehmen soll, was immer er möchte. Damit vermeidet Jardine geschickt jeden Diskurs, denn über eigene Erfahrungswerte lässt sich kaum streiten. Zwei Seiten weiter liest sich das dann jedoch mitunter ganz anders, wenn er wiederholt einen fiktiven, unterwegs getroffenen Wanderer ins Verderben stürzen lässt, weil dieser bei der Jardinenpredigt nicht genau aufgepasst hat.

Einige Passagen sind ausgesprochen gut geworden, so der bereits oben erwähnte Blick in die Outdoorindustrie. Den Erzeugern von Wanderausrüstung käme es sehr gelegen, so Jardine, dass sich Outdoorbegeisterte beim Kauf ihrer Utensilien nach dem großen Abenteuer sehnen. Der Handel verstärkt diese Sehnsucht mit kräftigen Bildern von Menschen, die durch die Wildnis streifen, und abends über dem Lagerfeuer den Oberschenkel des soeben erlegten Bären braten. Wer ein solches Abenteuer erleben möchte, muß auch für ein solches Abenteuer gerüstet sein. Eine Schlussfolgerung, die der Bärentöter in spe oft nur allzu gerne unterschreibt, immerhin will er ja möglichst viel erleben – und da wäre es nur allzu schade, würde es an der nötigen Ausrüstung scheitern. Also kommt das 30 cm lange Bear Adventure Knife in den Rucksack. Doch dieses Messer wird in seinem Leben ungleich viel mehr Streichkäse auf einem Brot verteilen als Bärenköpfe von der Bärenschulter trennen.

Und das kommt sowohl dem Bären, als auch dem Handel sehr entgegen: Um für alle Fälle gerüstet zu sein, greift der Käufer lieber zur ‘sicheren’, anstatt zur tatsächlich benötigten Ausrüstung, so Jardine. Und dabei geht es gar nicht darum, ein teureres Produkt zu kaufen – allein dadurch, dass sich der Kunde für ein robusteres Modell entscheidet, erspart sich der Handel den Aufwand, der durch nachträgliche Reklamationen entstehen würde. Oder: Warum in leichte Stoffe zB für Rucksäcke investieren, wenn sich der Kunde von einem Rucksack doch in erster Linie spürbare Robustheit erwartet?

Wenn der Kunde lieber robustere Ware kauft, so kann das dem Erzeuger/Händler nur recht sein.”
(Ray erzählt das alles natürlich ganz anders, aber das isses, woraus er hinaus möchte)

Auf diese vereinfachte Darstellung setzt nun der restliche, der Ausrüstung gewidmete Teil des Buches auf: Bei so gut wie allen Aspekten des Outdoorlebens gilt es zu hinterfragen: Passt mein Zeug mit der geplanten Unternehmung zusammen? Oder geht es auch leichter? Dabei widmet sich Jardine zuerst den großen Vieren, also Rucksack, Zelt, Schlafsack, Schuhe. Hier gibt es bekanntlich am meisten zu holen, und das sind auch die Eckpfeiler der – inzwischen in der Wanderszene zur Weltreligion herangereiften – Ultralight-Szene.

Leichtes Wasser zum Mitnehmen

Leichtes Wasser für unterwegs

Dem Ausrüstungsteil folgen generelle Aspekte. Ray nimmt uns ein Kapitel lang zum Kochen mit, und zeigt uns im nächsten, wie man umweltfreundlich duscht und badet. Für letzteres hat er sogar ein eigenes Wort erfunden, the dundo method. Kurz gefasst, empfiehlt Jardine, sich nicht im späteren Trinkwasser einzuseifen. Banalitäten wie diesen folgen jedoch immer wieder gute Überlegungen, beispielsweise zur Wahl des Zeltplatzes oder zur Organisation von ‘Resupplies’, also von Nachsendungen bei längeren Trekkingtouren. Beides Themen, die mich sehr interessierten und mir auch bei meiner Tourenplanung weiterhalfen. Ich bin auch durch dieses Buch auf die Idee gekommen, auf längere Touren einen Regenschirm mitzunehmen, da ich mir davon einige Vorteile verspreche, die über den offensichtlichen Zweck hinausgehen (dazu ein andermal).

In Summe ein Buch, an dem man mit einer ausgewogenen Mischung an Offenheit für Neues sowie Skepsis gegenüber jeder Art von Heilslehren durchaus seine Freude haben kann.

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Schlagwörter: , , , , Last modified: 12. Mai 2016
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